Covid-19-Arzt im Interview : „Es gibt eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit“


Cihan Çelik über seine Arbeit auf einer Covid-19-Isolierstation. Diesmal geht es um obdachlose Patienten, Berichte über bleibende Lungenschäden und die Frage, ob Covid-19 schmerzhaft ist.

Der Schweregrad der Krankheit bei den Patienten hat sich verändert. Es sind weniger Fälle, aber die sind komplexer. Manche Patienten sind schon sehr lange bei uns, und müssen jetzt bei den Kollegen der Intensivstation von der Beatmungsmaschine oder hohen Sauerstoffgaben entwöhnt werden. Zum einen sind das also medizinisch schwere Verläufe, zum anderen kommen bei uns auf der Normalstation sozial komplexe Umstände dazu. Wohnungslosigkeit zum Beispiel oder andere Situationen, in denen keine Heimisolation möglich ist. Wir haben einen Lkw-Fahrer behandelt, der in seinem Führerhaus wohnt. Insgesamt sehen wir nach zwei Monaten Behandlung von Covid-19-Patienten, dass es eine sehr starke soziale Komponente bei dieser Krankheit gibt. Gerade Patienten, die zu Minderheiten gehören und sozial schwach sind, sind bei der Morbidität und der Mortalität am stärksten betroffen. Sie werden also verhältnismäßig öfter krank und sterben öfter an der Krankheit. Das haben Studien in Ländern wie den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Norwegen gezeigt und das sieht man auch im Mikrokosmos Krankenhaus.

Woran liegt das?

Viele sozioökonomische Faktoren tragen dazu bei, ob man diese Krankheit bekommt und wie schwer sie verläuft. Fettleibigkeit kann zu einem schweren Verlauf führen, das ist vor allem in sozial schwachen Schichten ein Problem, genau wie ein Mangel an gesundheitlicher Aufklärung, an gesunder Ernährung, an Sport. Symptome werden außerdem oft erst später erkannt oder ernst genommen. Ärmere Menschen sind weniger gut an Ärzte angebunden, Migranten können teilweise ihre Beschwerden nicht so gut auf Deutsch schildern. Die Menschen leben auf engerem Raum und arbeiten in Berufen, in denen sie vielen Kontakten ausgesetzt sind. Armut macht krank, das ist bei vielen Krankheiten ein Problem. Aber momentan gilt die globale Aufmerksamkeit eben Corona.  

Behandelt Covid-19-Kranke: Dr. med. Cihan Çelik im Klinikum Darmstadt

Wie entwickelt sich die Zahl der Verdachtsfälle, die Sie über die Notaufnahme aufnehmen?

Sie steigt. Das liegt daran, dass die Abstrichkriterien des Robert-Koch-Instituts im Moment ziemlich weit gefasst sind, damit man auf keinen Fall einen Patienten mit Covid-19 verpasst. Die Menschen horchen viel in sich hinein. Sie kommen schon mit Symptomen zu uns, die außerhalb einer Pandemie keine Aufnahme im Krankenhaus rechtfertigen würden. Das macht es für uns einfacher, die Krankheit früh zu entdecken und so die Reproduktionsziffer zu senken – also die Anzahl der Menschen, die ein Infizierter im Schnitt ansteckt. Wir bekommen viele Verdachtsfälle, davon werden aber recht wenige wirklich positiv getestet. Dementsprechend ist die Arbeitsbelastung auf der Station erträglich. Auf der Normalstation sind aktuell sieben positiv getestete Patienten, und sieben, bei denen ein Verdacht besteht. Dazu kommen noch sechs Patienten auf Intensivstation.

Wie geht es den Patienten auf Ihrer Station körperlich?

Sehr unterschiedlich, deswegen war das Erkennen der Covid-Erkrankung am Anfang so schwierig. Manche Patienten haben nur ihr Geruchs- und Geschmackempfinden verloren, andere haben nur Durchfall, andere viele Symptome auf einmal. Die zielführendsten Symptome bei der Diagnose bleiben Atemnot bei Belastung, Husten, sonstige Atemwegsbeschwerden und Fieber. Die schwersten Atemwegsprobleme treten erst in einem sehr späten Stadium der Krankheit auf.

Schmerzen kommen nur selten vor – wenn zum Beispiel außer der Lunge noch das schmerzempfindliche Rippenfell befallen ist.

Wie geht es Ihren Patienten psychisch?

Das Wort Coronavirus trägt aktuell eine enorme Kraft mit sich. Jeder Patient, dem wir sagen müssen, dass er positiv getestet wurde, fragt sich natürlich, was jetzt mit ihm passieren wird. Angesichts der Krankheitsentwicklung können wir in den allermeisten Fällen glücklicherweise beruhigen. Und die Patienten fühlen sich schnell sicherer, wenn sie sehen, wie viel um sie herum geschieht. Sie werden sehr engmaschig kontrolliert, an einen Monitor angeschlossen, wir überprüfen oft die Blutwerte und sehen so frühzeitig, wenn eine Verschlechterung eintritt. Das Vertrauen zwischen Patienten und Medizinern ist höher als bei vielen anderen Erkrankungen. Bei vielen Diagnosen sind die Erkrankten oft kritischer und wollen noch mal eine zweite Meinung hören, was selbstverständlich immer ihr gutes Recht ist. Bei dieser Pandemie sind viele einfach dankbar, dass ihnen geholfen wird.  

Wie funktioniert der Kontakt zwischen Patienten und Angehörigen?

Es gilt ein generelles Besuchsverbot. Ein paar Ausnahmen gibt es, zum Beispiel bei Patienten, die im Sterben liegen. Ansonsten haben wir ein Tablet für die Station angeschafft, damit können die Patienten telefonieren. Die meisten haben aber sowieso Smartphones. Das funktioniert gut. Und wir Ärzte telefonieren oft mit den Angehörigen, damit sie auf dem Laufenden sind.

Sie haben im vergangenen Interview berichtet, dass Patienten manchmal kaum Atembeschwerden haben, die Durchblutung der Lunge aber so gestört ist, dass trotzdem zu wenig Sauerstoff im Blut ankommt. Gibt es dagegen therapeutische Maßnahmen?

Es gibt eine Eskalationsleiter. Bei leichten Störungen reicht die normale Sauerstoffgabe über eine sogenannte Nasenbrille oder eine lose Maske, die man sich aufsetzt. Wenn die Lunge sehr stark befallen ist, reicht das nicht mehr aus, dann müssen wir mit Druck beatmen. Das läuft über die Intubation, eine festgeschnallte Maske oder einen Helm, den man Patienten aufsetzt. Die höchste Eskalationsstufe ist das Anreichern des Bluts mit Sauerstoff außerhalb des Körpers. Das kann man sich vorstellen wie eine Herz-Lungen-Maschine. Zu dieser Maßnahme mussten wir bei einem 50 Jahre alten Patienten greifen, der keine bekannte Lungenvorerkrankung hatte.

Wie geht es den Patienten, die von der Intensivstation zurück zu Ihnen auf die Station kommen?

Das ist ein sehr kritischer Punkt. Wir arbeiten eng mit den Kollegen auf der Intensivstation zusammen, um zu entscheiden, wann ein Patient stabil genug ist, um zu uns zu kommen. Manchmal sieht man recht schnell, dass doch noch mehr Sauerstoff benötigt wird, als wir das hier auf der Normalstation gewährleisten können, oder dass die Vitalzeichen nicht stabil genug sind. Dann werden sie wieder zurückverlegt – obwohl sie vorher schon ein paar Tage sehr stabil gewirkt haben. Dem Frieden ist bei Covid-19 nicht immer zu trauen. Die Entwöhnung von einer Beatmungsmaschine ist außerdem fast schon eine Wissenschaft für sich. Gerade bei Patienten, die zum Beispiel fettleibig sind oder eine Lungenvorerkrankung haben, ist das sehr schwierig und braucht viel Geduld und Feingefühl von den Kollegen der Intensivstation. Aber natürlich nehmen sie sich die Zeit und haben schon viele Patienten von der Druckbeatmung entwöhnt. In schwersten Fällen müssen sie in eine spezielle Klinik verlegt werden, wo sie in kleinen Schritten von der Beatmung entwöhnt werden.

Es gibt immer wieder Berichte über Patienten mit leichtem Covid-19-Verlauf, die angeblich bleibende Lungenschäden davon tragen. Haben Sie dazu schon genauere Erkenntnisse?

Meiner Meinung nach ist es zu früh, um von bleibenden Schäden zu sprechen. Sogar bei einem Patienten, der im Februar diese Erkrankung hatte, ist dafür noch nicht genug Zeit vergangen. Bei jeder normalen Lungenentzündung empfehlen wir, nach vier bis sechs Wochen noch mal ein Röntgenbild zu machen, um zu schauen, ob es Überbleibsel gibt. Das ist gar nicht so selten. Wie bleibend die Schäden bei Covid-19 sind, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. 

Haben Sie in den vergangenen zwei Wochen noch etwas Neues über die Krankheit gelernt?

Ja, man merkt, dass es weltweit das Forschungsthema Nummer eins ist, zu dem unglaublich viel veröffentlicht wird. Blutgerinnsel und Embolien bleiben ein wichtiges Thema. Diese Embolien sind eben nicht nur in Gefäßen der Lunge zu finden und stören dort die Durchblutung, sondern auch in der Niere. Das kann Entzündungen auslösen. Unser Blick wird immer breiter, von der anfänglichen Lungenkrankheit Covid-19 sind wir jetzt bei einer Systemerkrankung angelangt. Wir arbeiten mittlerweile mit Fachärzten der Nephrologie, der Neurologie und der Kardiologie zusammen – das funktioniert sehr gut.

Wann finden Sie Zeit dafür, sich mit neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu befassen?

Da gibt es gar kein Entrinnen. Die tägliche Auseinandersetzung mit der Krankheit stellt einen immer wieder vor Rätsel, Probleme und Herausforderungen. Ich möchte ja verstehen, was mit unseren Patienten passiert, um ihnen helfen zu können, das ist unsere Kernaufgabe. Die Zeit muss man sich nehmen. Das heißt eben auch, nach Feierabend noch mal die aktuellen Publikationen durchzugehen. Ganz wichtig ist außerdem, dass die Professoren und Kollegen aus den verschiedenen Fachbereichen aktiv auf mich zugehen und mich auf Publikationen hinweisen. Ich kann als Lungenarzt gar nicht einschätzen, was bestimmte Erkenntnisse in der Nephrologie für meine praktische Arbeit bedeuten. Für die Therapie einer Systemerkrankung braucht es dringend eine interdisziplinäre Zusammenarbeit und ich bin froh, dass in einem Krankenhaus der Maximalversorgung Experten aller Fachrichtungen vorhanden sind.

Wie blicken Sie auf die Lockerungen der Anti-Corona-Maßnahmen?

Wir als medizinisches Personal werden mit den Konsequenzen leben – dafür sind wir aber auch da. Der reguläre Krankenhausbetrieb abseits der Covid-Stationen wird gerade wieder etwas hochgefahren. Aber wir sind bereit, wenn es wieder mehr Fälle geben sollte. Ganz wichtig ist mir, dass niemand uns als Projektionsfläche für die Unzufriedenheit mit den Beschränkungen nutzt. Wir wollen einfach nur für die Patienten da sein. Es ist erschreckend zu sehen, wie ein kleiner Teil der Bevölkerung offenbar das Vertrauen in die Wissenschaft verloren hat. Diese Krankheit wurde nicht dramatisiert, das kann ich versichern. Dass wir in so einer guten Situation sind, hat hauptsächlich damit zu tun, dass die Maßnahmen von der Bevölkerung so gut akzeptiert und umgesetzt worden sind. Da muss man ein großes Danke sagen. Jetzt ist es an der Zeit, mit Vernunft und Blick auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse an Lockerungen zu denken. Ich persönlich werde aber erst mal noch nicht in Restaurants gehen.

Quelle:
https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/arzt-interviews/corona-arzt-ueber-obdachlose-patienten-und-lungenschaeden-16771004-p3.html

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